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Einen Brief zu schreiben in Zeiten von PC, Whatsapp und Co. ist völlig in Vergessenheit geraten. Dabei hat das Aufschreiben seiner Gedanken, Gefühle und Geschichten eine wundersame Wirkung. Denn während des Schreibprozesses kann man sich in aller Ruhe mit dem Inhalt befassen und seine Gedanken sortieren. Eine Liebeserklärung an das Briefschreiben.
WIE LANGE IST DEIN LETZTER BRIEF HER?
Sei mal ehrlich: Wann hast du das letzte Mal einen echten Brief geschrieben? Nein, keine Mail oder Whatsapp… Nein, auch keine Post- oder Grußkarte. Und nein, auch keine am PC getippte Antwort an das Finanzamt… Ich meine ein richtig altmodisches, handgeschriebenes Schriftstück, das keinen pragmatischen Zweck erfüllt. Einen Brief, der an einen Menschen geht, der dir so wichtig ist, dass du ihm deine Zeit schenkst. Ein wichtiger Mensch, der auch du selbst sein kannst. Denn einen Brief zu schreiben ist eine der sinnvollsten Aufgaben, wenn du das auf dem Herzen hast, dass sich [noch] nicht in Worte fassen lässt.
VOM HERZEN AUFS PAPIER
Ich war neulich in einer zwischenmenschlichen Situation, die mich einfach überfordert hat. Ständig dachte ich darüber nach und kam einfach nicht zu einer Lösung. Ich war sogar so meilenwert von einer Lösung entfernt, dass ich nicht mal wusste, was ich selbst denken und fühlen soll. Die komplette Verwirrung! Und jedes Gespräch, welches ich ratsuchend mit meinen Liebsten geführt habe, hat mich noch mehr durcheinander gebracht. Das Einzige, das ich sicher wusste war, dass ich meine Gefühle nicht einordnen kann, dass sie so tief verborgen sind, dass ich mich auf die Suche begeben muss. Eine Suche, die meinen Seelenfrieden wiederherstellen soll.
ABSTRAKTE GEDANKEN GREIFBAR MACHEN
Und so beschloss ich, einen Brief zu schreiben und erlebte etwas wirklich Faszinierendes: Jeden Tag schrieb ich ein paar Zeilen, mal mehr, mal weniger. In den Nächten schlief ich darüber und am nächsten Morgen schrieb ich wieder weiter. Oft kam mir das am Vortag Geschriebene plötzlich total falsch vor und so änderte, schrieb, zerknüllte und schrieb ich neu. Mal ruhte der Brief ein paar Tage und mal schrieb ich mehrere Seiten auf einmal, so lange bis mir die Hand wehtat.
STIFT UND PAPIER ALS SELBSTCOACHING
Und mit der Zeit merkte ich, wie meine Gefühle und Gedanken immer klarer wurden. Dinge, die vorher diffus in meinem Kopf herumschwammen, nahmen plötzlich Kontur an und mit jedem Tag wurde ich mir bewusster, was tatsächlich mein Problem ist. Irgendwann hatte ich also, ganz ohne fremde Hilfe, die kpmplette Situation völlig klar herausgearbeitet – und dies alles einfach nur mit einem Stift und Papier.
In der Psychologie ist der positive Effekt vom Briefeschreiben schon lange bekannt. Sowohl das an sich selbst gerichtete Schreiben als auch der Brief als Mittel, um schwierige Beziehungen zu klären oder hinter sich zu lassen, sind wirkungsvolle Techniken. Diese Briefe dienen dann ausschließlich zur Selbsthilfe und werden niemals abgeschickt.
SELBSTREFLEXION DURCH SCHREIBEN
Eine andere Frage ist, ob ich meinen Text dann auch tatsächlich abgeschickt habe. Am Ende meines Schreibprozesses habe ich mir diese Frage immer wieder gestellt und Pro und Contra abgewogen. Letztendlich kommt es aber gar nicht darauf an!
Erreicht der Brief seinen Empfänger, hast du etwas von dir preisgegeben – und etwas bewegt. Aber auch wenn du den Brief in der Schublade verstauben lässt: Wichtig ist, dass du ihn geschrieben hast, denn davon hast du in jedem Falle profitiert. Die eigenen Gedanken so zu formulieren, dass sie auch der Empfänger versteht, ist das beste Tool um sich selbst zu reflektieren.
TAGEBUCH IST NICHTS FÜR DICH? DANN SCHREIBE DIR EINEN BRIEF!
Jene Effekte, die ich soeben beschrieben habe, sind einem Tagebuch sehr ähnlich. Der kleine – aber gravierende – Unterschied: Ein Tagebuch ist an dich selbst gerichtet. Ob du unfair urteilst oder deine Gefühle völlig unreflektiert wiedergibst, dass interessiert hier keinen.
Aber das regelmäßige Aufschreiben aller Erlebnisse und Gedanken in einem Tagebuch kann anstrengend und zeitintensiv sein und ist nichts für jeden. Aber wie wäre es, wenn du einfach mal, wenn dir gerade danach ist, einen Brief an dich selbst schreibst?
Wenn du dich gerade unwohl fühlst oder dir etwas auf der Seele brennt, dann kannst du den Brief, nachdem du alle negative Gedanken rausgelassen hast, auch wunderbar vernichten, was sich unglaublich befreiend anfühlen kann.
Besonders schön ist es aber auch, wenn du den Brief in glücklichen Momenten schreibst und als Reminder an gute Tage aufbewahrst…
Der große Vorteil dabei ist, dass du alles völlig frei heraus schreiben kannst. Niemand außer dir wird diesen Brief lesen oder darüber urteilen. Klingt vielleicht erst etwas befremdlich, aber ist doch einen Versuch wert.
DER LIEBESBRIEF
Und dann gibt es noch die Situationen, in denen du ganz genau weißt, was du ausdrücken willst, du dich aber einfach nicht traust. Der perfekte Zeitpunkt also, um einen Brief zu schreiben. Wer selbst außerdem schon einmal einen Brief, der mit Mühe und Liebe geschrieben war, bekommen hat, weiß um den Wert.
So eignet sich ein Brief perfekt, um einem lieben Menschen eine Freude zu machen, Emotionen zu beschreiben, die man vielleicht auch einfach lieber zu Papier bringt als sie direkt auszusprechen.
„Ein Brief ist eine Seele. Er ist ein so treues Abbild der geliebten Stimme, die spricht, daß empfindsame Seelen ihn zu den köstlichsten Schätzen der Liebe zählen.“
-Honoré de Balzac
Aber auch umgekehrt kann so ein Text viel bewegen: Fühlst du dich in deiner Beziehung unwohl und brennen dir Dinge auf dem Herzen, die du für deinen Partner [oder für dich] in Worte fassen willst, versuche es doch mal mit einem Brief. Oft öffnen sich durch Worte Türen, die sonst verschlossen bleiben oder regen zum Umdenken an.
EIN BRIEF KANN DIR NICHT WIDERSPRECHEN!
Während du deine Worte zu Papier bringst, gibt es einen großen Vorteil, welchen du bei allen anderen Kommunikationsformen nicht hast: Dir kann niemand widersprechen, du wirst nicht unterbrochen, dir redet niemand herein! Du kannst dich voll und ganz auf das konzentrieren, was du schreiben willst, nimmst dir so viel Zeit, wie du brauchst und bekommst kein direktes Feedback, da es dir überlassen ist, ob und wann du den Brief überhaupt abschickst.
Anders als bei einem Gespräch, Telefonat oder auch einem Chat, sogar anders als bei einer Mail, kannst du dir sicher sein, dass ein Brief einen ganz anderen Stellenwert für den Empfänger hat.
Du kannst dir Zeit lassen – und die brauchst du auch, denn mit der Hand zu schreiben, dauert nun mal länger als ein flink getippter Text oder ein [vielleicht zu schnell] gesagter Satz. Dafür beweisen aber wissenschaftliche Erkenntnisse, dass das handschriftliche Verfassen von Texten zum intensiveren Nachdenken anregt, du hast also die doppelte Gewissheit, dass du nichts Unüberlegtes von dir gibst.
GUT FÜR KÖRPER UND SEELE
Und noch ein guter Grund für das Briefeschreiben: Laut wissenschaftlicher Erkenntnisse sei das Schreiben extrem heilsam für die Seele, habe aber auch für den Körper, also die physiologische Seite, einen enormen Benefit.
Die glücklichen Momente des Lebens in einem „Dankbarkeitsbrief“ aufzuschreiben, fördere das Wohlbefinden und mache zufriedener, so eine Studie von René Proyer.
Eigentlich logisch, dass wenn man achtsam und aufmerksam die schönen Seiten des Alltags würdigt und durch das Aufschreiben in Erinnerung behält, insgesamt bestimmt ein bisschen glücklicher wird.
Darüberhinaus sollen laut einer Studie von Penebaker und Beall 1, die bereits in den 80er Jahren stattfand, auch positive langfristige körperliche Effekte in Bezug auf das [expressive] Schreiben beobachtet worden sein. Die Probanden hätten weniger zum Arzt gehen müssen und sogar verbesserte Immunparameter.
MEINE TIPPS ZUM BRIEF SCHREIBEN:
- Nimm dir Zeit, überstürze nichts und setze dich nicht unter Druck.
- Mehr Spaß macht das Schreiben mit einem guten Stift und schönem Papier.
- Nimm‘ dein Skript überall hin mit, du kannst im Park, im Café oder im Bett schreiben…
- … such dir ein schönes Plätzchen, um zu schreiben.
- Ein schöner Ausblick inspiriert, wenn du ab- und zu deinen Blick schweifen lässt.
1 Psychoneuroimmunologie und Psychotherapie (herausgegeben von Christian Schubert)
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