Ehrlichkeit im Alltag – Fluch oder Segen?

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Dabei geht es um den alltäglichen Umgang mit der Ehrlichkeit. Von Ehrlichkeit in ganz normalen, banalen Situationen, die uns allen bekannt vorkommen werden.

„Dem habe ich aber mal so richtig meine Meinung gegeigt, hat das gut getan!“

Seinem Chef endlich mal ehrlich und direkt die Meinung ins Gesicht sagen, so wie im Film, und dann die Kündigung auf den Tisch knallen. Das ist befreiend und unter Umständen gleichzeitig sehr dumm… Funktioniert aber – besonders im Film – hervorragend, weil es sich um einen ungeliebten Menschen handelt, der einem nicht nahe steht.

Aber sollte es nicht auch genau umgekehrt funktionieren?

EHRLICHKEIT – EINE POSITIVE EIGENSCHAFT?

Allgemeinhin wird die tugendhafte Ehrlichkeit oft als positive Eigenschaft aufgezählt, wenn es darum geht, Menschen zu charakterisieren. Doch wie genau ist diese Ehrlichkeit definiert? Geht es darum, eine ehrliche Meinung zu den neuen Schuhen zu bekommen? Oder darf man die Ehrlichkeit tiefer, weiter unter der Oberflächlichkeit dieser netten Eigenschaft suchen? Und ist die Ehrlichkeit immer nur positiv?

Im Endeffekt sind Ehrlichkeit und Höflichkeit gewissermaßen Gegenspieler – oder könnten es zumindest sein, denn: Wer höflich ist, kann eigentlich nicht ehrlich sein, jedenfalls nicht immer. Denn ehrliche Komplimente vergeben ist die eine Sache, aber ehrliche Antworten auf JEDE Frage eine ganz andere. Und dabei denke ich gar nicht an all die ungesagten Sachen, die vielleicht im Inneren brodeln, sondern an die ganz profanen alltäglichen Situationen und Fragen, auf die dann eben auch ehrlich reagiert werden müsste. Ich meine all diese vielen kleinen Notlügen, denen wir alle täglich – mehr oder weniger bewusst – bedienen. Denn wäre das Leben nicht noch viel komplizierter und härter OHNE diese kleinen Helferlein, die die Realität vielleicht ein klitzekleines bisschen verdrehen?

„Ehrlichkeit ist anstrengend“

-Henri Stendhal 

Schonungslos ehrliche Menschen machen mir eher Angst… Solche Menschen – meistens sind es entfernte Bekannte, Kollegen, etc. –, die dir morgens einfach unaufgefordert erzählen, wie fertig man heute doch aussieht, angeblich. „Ohje Süße, geht’s dir nicht gut? Du siehst echt schlecht aus…“ – diese falsch verstandene Ehrlichkeit, die eigentlich eher unaufgeforderte Direktheit ist, meine ich aber gar nicht.

Ehrlichkeit kann verletzend sein

Eher die Vorstellung, dass Freunde und Familie schonungslos ehrlich auf eine alltägliche Frage, wie zum Beispiel wann das nächste gemeinsame Treffen stattfinden könnte, einfach mit einem „Nein, ich habe heute keine Lust dich zu sehen, das letzte Mal mit dir hat mich nur gelangweilt“ reagieren. Oder dass ich von einer guten Freundin irgendwann mal ein „Deinen neuen Partner finde ich einfach nur grauenhaft, bitte nicht wundern, wenn ich in Zukunft den Kontakt zu dir mehr und mehr einschlafen lasse…“ zu hören bekommen könnte. Oder ich mich damit abfinden muss, dass ich nur die zweite Wahl in der Abendplanung meines gut befreundeten Kollegen bin. Denn wären Aussagen wie „Heute habe ich aber sowieso mehr Lust auf eine schöne Naturdoku als auf dich“ nicht wahnsinnig verletzend? Ehrlich natürlich, aber verletzend. Oder vielmehr zu verletzend und vor allem gesellschaftlich nicht auch einfach völlig undenkbar?

LÜGNER SIND SYMPATHISCHER!

Psychologisch erforscht und irgendwie auch logisch: Lügner sind sympathischer und auch sozial intelligenter. 1  Wer sich besser in andere Menschen hineinversetzen kann, der merkt ganz intuitiv, wie viel Wahrheit sein Gegenüber verträgt und kann in pikanten Situationen entschärfend agieren, indem dann vielleicht doch mal zur Notlüge gegriffen wird.

EHRLICHKEIT ALS PROVOKATION

Zurück zur Ausgangsfrage, ob Ehrlichkeit für das Gegenüber eher ein Privileg oder Provokation ist.

Dabei gilt es wohl zu unterscheiden, von welcher Beziehung die Rede ist. So verträgt eine Liebesbeziehung, welche sehr innig ist, bei der man jede Stunde und Minute miteinander verbringt, viel mehr Ehrlichkeit und braucht diese auch, um zu funktionieren. Bei engen Freundschaften ist dies ähnlich, denn nichts kann eine Freundschaft mehr stärken als Wahrhaftigkeit. Ein kleines Geheimnis anvertrauen oder auch mal raus lassen, wenn es einem gerade einfach nicht so gut geht, ist viel wertvoller als nur die sonnigen Stunden miteinander zu teilen.

Denkt man dann an die erweiterte Familie, tauchen vielleicht wieder ganz andere Themen bezüglich der Ehrlichkeit auf: Wollte man Tante Else nicht schon immer mal sagen, dass man ihren Streuselkuchen, den man jedes Jahr zum Geburtstag bekommt, nur mit Mühe herunterwürgen kann? Das man in jungen Jahren einfach nur zu schüchtern war und den verhassten Kuchen deshalb lieber gelobt hat, als ehrlich zu sagen, dass man Kuchen generell gar nicht mag?

Und dann geht die Überlegung weiter: Ja… Also Tante Else könnte ich das eigentlich wirklich mal sagen. So nah stehen wir uns ja nicht und vielleicht ist sie sogar ganz froh, wenn sie nicht immer für mich backen muss.

EHRLICHKEIT ALS WEG ZUM INNEREN GLEICHGEWICHT

Im Grunde genommen werden wir uns mit jeder Ehrlichkeit, die sorgsam formuliert und nicht provokativ verletzend ist, besser fühlen, da wir so näher an uns selbst sind. Sich nicht verstellen müssen, nicht (mit schlechten Gewissen) zur Notlüge greifen müssen, fühlt sich mit Sicherheit besser an, auch wenn es unbequemer ist.

„Eine schmerzliche Wahrheit ist besser als eine Lüge“

-Thomas Mann

Trotzdem muss natürlich nicht jede Wahrheit ausgesprochen werden! Es reicht schon völlig, wenn man sich in den entsprechenden Situationen immer mal wieder bewusst macht, dass es jetzt zwei Möglichkeiten gibt: Richtig ehrlich zu sein – oder halt nicht ganz so…

HÖRE AUF DEIN BAUCHGEFÜHL

Ganz klar: Warst du eigentlich immer ein bisschen zu höflich, ein bisschen zu zaghaft und hast dir lieber eine wunderschöne Notlüge einfallen lassen, als es auf eine Konfrontation ankommen zu lassen, wird es jetzt für deine Mitmenschen vielleicht erstmal etwas befremdlich sein, wenn du ehrlich antwortest. Und es wird Situationen geben, in denen du abwägen wirst, ob eine ehrliche Aussage nun wirklich nötig ist. Aber jedes neue Bewusstwerden und jedes neue Abwägen wird deine Wahrnehmung für den Umgang mit der Ehrlichkeit schärfen und allein das ist doch schon ein großer Schritt in die richtige Richtung. Höre einfach auf dein Bauchgefühl!

Alles, was du sagst, sollte wahr sein. Aber nicht alles, was wahr ist, solltest du auch sagen.

-Voltaire

1 Interview mit dem Psychologen Robert Feldmann http://www.zeit.de/zeit-wissen/2012/03/Interview-Robert-Feldman

Photo by Pablo Heimplatz on Unsplash

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